Indien 2013
Dies ist mein erster Besuch in Indien. Gerade habe ich das Flugzeug über die Gangway verlassen und folge den Schildern „Gepäckausgabe“ und hoffe, daß meine Tasche auch in Indien gelandet ist. Ich reihe mich in die Reihe der Wartenden am Gepäckband ein und schau mich neugierig um. Indien! Viel habe ich von diesem Land gehört und gelesen.
Es ist fast 02:00 nachts als ich den Flughafen von Bangalore verlassen und zum ersten Mal indischen Boden betrete. Das erste, was ich wahrnehme ist das Lachen unseres Reiseführers Bahadur. Die Hitze, die Schwüle, die Gerüche und das chaotische Treiben auf den Straßen, nehme ich erst später im klimatisierten Bus wahr. Irgendjemand muß mir einen Blumenkranz um den Hals gelegt haben als ich fasziniert dem Verkehr zugeschaut habe.
Auf der Fahrt zum Hotel bin ich überwältigt von den vielen neuen Eindrücken. „Ich bin in Indien“ – diesen Satz sage ich mir im Geiste immer und immer wieder. Ich bin zwar physisch in Indien, aber angekommen in Indien war ich noch lange nicht.
Das 5 Sterne Hotel, das für die nächsten 2 Tage mein zuhause war, bot den gleichen Standard wie alle 5 Sterne Hotels weltweit. Das so ein Luxus Hotel wie eine reiche Insel in einem armen Ozean ist, sollte mir erst später auf der Reise bewusst werden. Mir ging es wahrscheinlich wie den meisten Menschen, die zum ersten Mal den indischen Subkontinent besuchen. Ich war fasziniert von den Menschen, von den Farben, von den Gerüchen, von der Atmosphäre, von den Tempeln, von der tiefen Spiritualität mancher Inder und von der Lebensfreude in Indien.
Je länger die Reise dauerte und je tiefer ich in Indien eintauchte, desto mehr kam die andere Seite Indiens an die Oberfläche. Wer genauer hinschaut, sieht die Armut, das Elend und die Not an jeder Ecke – sogar in einem 5 Sterne Hotel. Der Portier, der die Gäste in einer weißen Uniform empfangen hat, hat nur diese eine Uniform. Er kann nicht jeden Tag seine Kleider wechseln wie wir. Sein Zuhause ist keine Wohnung mit mehreren Zimmern, sondern ein Zimmer, das er sich meist auch noch mit anderen teilt. Eine Klimaanlage kann er sich nicht leisten. Sein Einkommen langt gerade für das nötigste im Leben. Dabei ist er noch privilegiert.
Die Rikscha Fahrer, die mich sicher durch das indische Verkehrschaos geleitet haben, schlafen meistens direkt auf ihrer Rischka. Eine eigene Wohnung mit Badezimmer und Toilette? Haben Sie nicht – Sie leben meist auf der Strasse und waschen sich im Park. Kleider zum Wechseln haben sie meist auch nicht. Wo die Fahrer ihre Kleider waschen weiß ich nicht – vermutlich in einem Fluß oder in einem öffentlichen Brunnen. Tag für Tag müssen sie die Abgase der Autos einatmen. Sie arbeiten, leben und wohnen auf der Straße.
Und wenn man die Armut erst einmal bewusst wahrgenommen hat, dann kann man sie fast überall sehen. Angefangen von den kaputten Straßen, dem erbärmlichen Zustand vieler Häuser und den vielen Menschen, die auf der Straße leben und auf Almosen angewiesen sind.
An fast jeder Ecke sitzt ein armer oder kranker Mensch und hofft auf ein paar Rupien und ein Lächeln von vorbeilaufenden Menschen. Ein paar Rupien einem Menschen zu geben, kostet uns Wohlhabende nicht viel. Aber einem Menschen am Rande der Gesellschaft ein Lächeln zu schenken fällt uns schon viel schwerer. Noch schwerer fällt es uns meist, den Armen einige Minuten unserer Zeit zu schenken, zu Ihnen hinzugehen, sie anzulächeln, in die Augen zu schauen und ihnen im Geiste alles Gute zu wünschen.
Ein Tag auf den Straßen Indiens ist anstrengend. Nicht nur wegen der Hitze und der Schwüle, sondern weil es Kraft kostet, die Armut und die vielen Kranken, die auf der Straße leben, auszuhalten.
Aber dann gibt es noch die andere Seite von Indien: Heilige Menschen (Sadhus), Tempel in allen möglichen Farben und Formen, neue Gewürze und Gerüche, frische Mangos, eine wunderbare Leichtigkeit des Seins und eine unglaubliche Lebensfreude. Kaum zählbare Statuen und Bilder von Göttern, die sich an jeder Ecke finden lassen. Das Leben pulsiert auch nachts. Die Märkte sind voll und laut und chaotisch, aber wunderbar!
Die Spiritualität ist tief verwurzelt in Indien. Wenn ein Guru spricht, gibt es lange Schlangen, die Plätze sind voll und viele Menschen kommen von weit her, um ihren Guru zuhören. Bei uns gibt es solche Ansammlungen meist nur, wenn ein Hersteller ein neues Smartphone vorstellt. Die meisten Inder nehmen ihr Schicksal an und versuchen, das Beste aus ihren Umständen und ihrem Leben zu machen.
Indien zu beschreiben ist genauso schwer, wie die Gegensätze zu verstehen. Wer begreifen möchte, warum es gleichzeitig Paläste, Wohlstand und ein hohes Bewusstsein geben kann, und direkt daneben Armut und Krankheiten existieren können, der muss sich auf den Weg nach Indien machen und es selbst erleben.